VOID ist eine multimediale, choreographische Installation aus Tanz, Licht und Sound. Als Teilprojekt der Recherche THREADS OF PIECES OF DANCES bildet das philosophisch-politische wie auch künstlerische Interesse an der De- und Rekonstruktion von Material als zirkulierender Prozess der Anreicherung, Modifikation und Neukombination den Ausgangspunkt der Installation.
Ausgewählte Datensatzfragmente der digitaliserten Duett Choreographie Will I dream during the Process? werden von zwei Tänzerinnen, einer Sound- und einer Lichtkünstlerin in ihre jeweiligen Medien übersetzt. Dabei setzt sich das transkribierte Material auf der Bühne wie die einzelnen Bausteine eines Kaleidoskops zu immer neuen Bildern zusammen. Licht und Sound stehen nicht als begleitende, sondern als gleichberechtigte Ausdrucksmittel neben dem Tanz.
Spielfläche dieser medialen Konstruktionen ist eine begehbare Luftkugel aus weißer Ballonseide. Die weiße Blase als performativer Möglichkeitsraum, kreiert ein Vakuum in dem das Material sich immer wieder neu zusammensetzten kann. Der Raum erscheint in immer „neuem Licht“, spielt mit der De- & Illusion der Wahrnehmung und konfrontiert uns damit Perspektive als beweglich zu denken, als ein fluktuierendes Narrativ, dass immer wieder neu entsteht.
Konzeptueller Hintergrund
Der Titel VOID lehnt sich zum einen an den aus der Programmiersprache entnommenen Begriff „Void“ an, der einen Datentypus ohne Inhalt beschreibt. Eine Leerstelle, die sich zahlreich füllen lässt und deren Inhalte in ständiger De- und Rekonstruktion begriffen sind. Er verweist zum anderen auf einen zentralen Begriff der „Leere” im Mahayana-Buddhismus, Shunyata (Sanskrit, f., शून्यता ). Shunyata beschreibt einen unbegrenzten Zustand, frei von Dauerhaftigkeit und eine Erfahrung der Unendlichkeit. Die Welt ist keine Welt des Seins, sondern des ständigen Werdens, in dem es keine festen Substanzen und keine unumstößlichen Realitäten gibt.
Inhaltlich, wie auch methodisch schließt VOID an diesen fluiden Zustand der Möglichkeiten an, indem sie durch das choreographische Aufzeigen von Prozessen der De- und Rekonstruktion einen Raum der Reflexion öffnet und damit festschreibende Kategorisierungen, Absolutheitskonzepte und unbewegliche Konstruktionen von Wertevorstellungen und Betrachtungsweisen kritisch hinterfragt. VOID de-konstruiert auf der Bühne den singulären Blickwinkel und faltet durch eine poetische, choreographische Installation Multikomplexität und Vielfältigkeit auf. Es entsteht ein performatives Plädoyer für Bedeutungsvielfalt und hybride Perspektiven.
Künstlerische Methode
Das digitale Abbild der Duett-Choreographie Will I dream during the Process? bildet den abstrakten Rohstoff und das Ausgangsmaterial der multimedialen Tanzproduktion VOID. Dieses Cluster einzelner, digitaler Spuren wird dann von den beteiligten Künstler*innen in die drei Medien, Tanz, Licht und Sound übersetzt und im Laufe des Entwicklungsprozesses/der Performance immer wieder neu zueinander ins Verhältnis gebracht. Durch den Gebrauch desselben Ausgangsmaterials, entsteht eine Vielfalt von Ausdrucks- und Interpretationsmöglichkeiten, die sich immer wieder auf die gleiche Vorlage beziehen: Den Datensatz.
Handwerkzeuge und Begriffe des Digitalen sowie ihre methodische Anwendung für den kreativen Produktionsprozess wurden auch im Rahmen der Recherche Digital Frames untersucht, worauf der Probenprozess von VOID aufbaute.
Zur Vorbereitung wurde zusammen mit Anton Koch von der Motion Bank der Datensatz der Choreografie Will I dream during the process?, der als Ausgangsmaterial von VOID dienen soll, aufbereitet. Die bestehenden Datensätze wurden durchgesehen, aussortiert und bestimmte Designs/Interfaces ausgesucht, die die Basis für die interdisziplinäre, künstlerische Arbeit bilden sollen.
Wie das Speichern, von ‘immateriellen Daten’ auf ;materiellen Datenspeichern’ funktioniert lässt sich auch auf den choreografischen Prozess übertragen, indem Informationen über den ‘Tanz’ (Die immateriellen Daten) durch den Übersetzungsprozess in die Materialität des Körpers, des Lichts oder des Sounds übertragen werden und in den drei Medien in Form einer Präsentationsoberfläche abgespeichert werden und damit als materielle Datenspeicher’ funktionieren.
Das Stück
Die multimediale Installation VOID entsteht neben dem Proben- und Übersetzungsprozessen vor allem auch im Moment der Aufführung und durch die Interaktion, das mediale Zusammenspiel des Materials sowie der Wahrnehmungs- und Interpretations- Erfahrung der Zuschauer*innen.
Ziel ist es, den ausgewählten Datensatz von fünf Spuren – ein wiedererkennbares Material – in einer Vielfältigkeit von Präsentations- und Kombinationsmöglichkeiten aufzufächern. Damit ist die De- & Rekonstruktion des Abbildes der Choreographie Will I dream during the process? ein Plädoyer für hybride Perspektiven und Konstruktionsmöglichkeiten. Die Bühne wird zu einem utopischen Raum, der eine Vielzahl, dem Material bereits inhärenten Ausdrucksmöglichkeiten zum Vorschein kommen lässt, und offen ist mit anderen (imaginären) Realitäten gefüllt zu werden.
Das Stück soll die Zuschauer*innen mit der Pluralität von Perspektiven konfrontieren. Es spielt bewusst mit choreografischen und dramaturgischen Strategien der Irritation und Verunsicherung, indem Überraschungsmomente und Clashes kreiert werden. Vorhersehbares wird umgeworfen, Bestimmbares wird immer wieder verzerrt, verschoben, auseinander gebrochen und wieder neu zusammengefügt. Die Dramaturgie spielt mit harten radikalen Brüchen, Unterbrechungen, schnellen Bildwechseln, blurred edges, weichen Verschiebungen, Verwischung, Verzerrung und mit der Verwirrung der Sinne. Es entsteht ein fortwährend sich wandelnder Raum, der uns zeigt, dass alles auch anders sein könnte. Das Publikum wird aus gängigen Wahrnehmungsmustern gerissen und kognitiv wie sinnlich mit der Pluralität und Multikomplexität von Wahrnehmung konfrontiert – mit der Idee, Perspektive als etwas Bewegliches zu denken.
Gesellschaftliche Relevanz
Die Installation ist im Übertragenen Sinne ein politisches Plädoyer dafür, den Status Quo zu revidieren, traditionelle Normensysteme zu hinterfragen, Kategorisierungen kontinuierlich zu überdenken und neu zu verhandeln. Gesellschaft wird selbst als fluktuierend, als keiner natürlichen Ordnung folgend, begriffen. Sie ist Teil einer immer wieder neu konstruierbaren Wirklichkeit. Gesellschaft wird damit Teil einer (System)Konstruktion von vielen, die unserer jeweils eigenen kreativen Imagination folgen kann. Aus dieser Haltung heraus erschließt sich auch individuelle Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit, sowie politische agency.
Roman Marek verweist in seinem Buch Understanding YouTube, auf das In-Zirkulation-Sein von Material. Jede Wiederholung ist eine Modifikation, die zum einen Bestandteile, oder Zitate eines vorherigen Materials oder vermeintlichen Originals aufweist. Sie hat aber immer auch einen Anteil von Neuem. [1] Er verweist sehr deutlich auf die bewusste Gestaltung dieses “Restes”, den man der ‘Wiederholung’ hinzufügt und der eine wichtige Rolle in der Entwicklung unserer Gesellschaft und Kultur spielt. Gesellschaftliche Strukturen generieren sich genau über diese ‘differentiellen’ Wiederholungen. Die Variationsmöglichkeiten können zu einem Zustand des ‘Empowerment’ und der bewussten Einflussnahme auf gesellschaftliche und kulturelle Prozesse führen. Neben diesem politischen Anteil, existiert in der “Wiederholung mit Differenz” aber auch ein ästhetisches und kreatives Potential der Neu-Gestaltung und/oder Neu-Verknüpfung. Im Zuge dieser Modifikation von Ausgangsmaterial wird nicht nur das Material selbst verändert, sondern auch deren Wirkung und damit die Einflussnahme auf die Wahrnehmungsmuster der Zuschauenden. “Politik und Ästhetik stellen die Bühne dar, auf denen die etablierte Aufteilung des Sinnlichen in Frage gestellt werden kann, auf denen eine Neuverhandlung, des Verhältnisses von Sehen, Sagen, Tun und Sein stattfinden kann.” [2]
Der Kosmos von VOID
Die künstlerischen Methode und gesellschaftlichen Relevanz des oben beschriebenen Ansatzes ist vor allem durch den technischen Hintergrund von Digitalität und post-strukturalistischen Ideen der Re/De-Konstruktion geprägt. Neben diesen Zugängen ist die multimediale Installation VOID aber auch eine poetische Sinneserfahrung, die darauf abzielt eine morphende und spielerische Atmosphäre zu kreieren. Darauf verweist auch das bereits erwähnte Bild eines Kaleidoskops. Das Tradieren von Material, die Weitergabe kann nämlich durchaus auch von einer Perspektive betrachtet werden, die die schöpferische Anreicherung und Kollektivität dieser Prozesse betont. Donna J. Haraway beschreibt in ihrem Buch Unruhig bleiben, einem Plädoyer für neue Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die Verflechtung aller Dinge, die sich gegenseitig bedingen und wie zahlreiche Fäden zusammengeknüpft den Teppich der Welt ergeben.
“Es ist von Gewicht, mit welchen Ideen wir Ideen denken… welche Knoten Knoten knoten, welche Gedanken Gedanken denken, welche Beschreibungen Beschreibungen beschreiben, welche Verbindungen, Verbindungen verbinden. Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen.” [3]
Der Datenkatalog wird ebenso wie Fäden dekonstruiert, auseinandergenommen und wieder zusammengeknüpft. Dadurch entstehen Gebilde aus Zeichen oder kontinuierliche Funktionen, die Informationen darstellen, wie geflochtene Fäden, die zu Mustern und Flächen werden. Im Spiel mit Fäden wie mit Daten geht es um das Weitergeben und In- Empfang nehmen von Mustern, um das Fallenlassen von Fäden, aber manchmal auch darum etwas zu finden das funktioniert, etwas Konsequentes und vielleicht sogar Schönes, etwas das noch nicht da war, ein Weitergeben von Verbindungen, die zählen.
Es ist eine Neu-Verknotung. Ein kollaboratives gemeinsames Weitermachen, das Komponieren eines neuen möglichen Kosmos, der nicht neu-erfunden sondern vielmehr kompostiert ist. Kein “post-humanes”, sondern “kom-post-iertes” Zeitalter beschrieben will. Mit kollaborativen und spekulativen Realismen und Geschichten lässt VOID im Gemeinsamen Fähigkeiten, Sozialität, Materialität und Dimensionen entstehen und bietet damit einen Modellcharakter für unsere Gesellschaft an, die nichts weniger als “das Komponieren einer lebenswerteren Kosmopolitik” [4] für unsere Zukunft im Auge hat.
[1] Marek, Roman (2013): Understanding Youtube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld: transcript, Vgl. S.274
[2] Ebd. S. 213
[3] Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt am Main: Campus, S. 23
[4] Ebd. S. 26
PREMIERE: 19-21.11.2021 LICHTHOF Theater Hamburg
Konzept: Véronique Langlott
Choreographie & Tanz: Véronique Langlott & Adaya Berkovich
Lichtdesign: Susana Alonso
Sounddesign: Manuela Schininá
Bühnenbild: Atelier LANIKA
Kostüm: Franziska Müller & Linda Spörl
Dramaturgie: Elisabeth Leopold
Produktionsleitung: Anne Schmidt
Unterstützt von: Anton Koch und der Motion Bank.
Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.